Flussquelle
Rauschendes Wasser
Aus der Erde Schoß
In die Ebene sich ergießend
Noch so rein und kühl
Eilt dahin, nach eigenem Willen
Rauschet in mein Ohr
Hält mich fest und fängt meinen Blick
Eröffnet Kontemplation
Umfließet meine Gedanken
Säuselt sanft in mich hinein
Erleuchtet mein Sinnengeflecht
Ruhe fließet in mich
Rainer Heuser Juli 2019
Haikus
Ein Haiku soll sich auf das Äußere beschränken. Letzte der drei Zeilen: Offenes Ende mit Nachklang.
Haiku 1
Meereswellen
Der Kinder überschäumende Schreie
Salzige Glückstränen
Haiku 2
Schreibwerkstatt
Menschen reihen Buchstaben
Stille Verbundenheit
Haiku 3
Bach´sche Musik
Zerdrückend – mit edlem Schmerz
Verstörende Demut
Für meine Enkelin Malia
Welch tiefe Rührung in mir
deine trippelnden Schritte
noch unsicher
und doch so unbeirrt selbstsicher
im Sonnenlicht zu sehen
Wenn der Laut eines Vogels
dich erstarren lässt
du den Finger hebst
und ein „piep, piep“ unschuldig
deinen kleinen Mund verlässt
Auf das Säuseln eines Baches
dich achtsam zur Seite drehst
weist auf dessen glänzende Silhouette
und als realisiertest du ein Wunder
hauchst du geheimnisvoll berührt: „Wasser!“
Wenn dein Blick sich hebt
du gegen die Sonne blinzelnd
den grünen Riesen zu erfassen suchst
und dann stolz auf ihn weist
und mich belehrst – dies sei ein Baum
Würdigst all die kleinen Wunder
und jedes macht dich reicher
und ich schau dir dabei zu
mein Enkelkind und weiß:
das größte Wunder, das bist du
Kurzgeschichte
Filmriss
Martin Eickler schlägt die Augen auf. Er sieht alles vollkommen verschwommen. Seine Augen sind offensichtlich mit einem zähen Film belegt, der sein modern eingerichtetes Schlafzimmer wie hinter Milchglas erscheinen lässt. Sein Schädel brummt. Um die Kopfschmerzen abzumildern, schließt er die Augen erst einmal wieder. Als er sich auf den Rücken dreht, bohrt sich ein tiefer Schmerz in seinen Magen. Auch seine Sinne scheinen sich diesem physisch schlechten Zustand anzugleichen. Er versucht, sich an den letzten Abend zu erinnern, was nur rudimentär gelingt. Gedankenfetzen tauchen nebulös auf, um sofort wieder zu verschwinden, so, als lösche eine imaginäre Kraft alle aufkeimenden Gedanken. Er gibt dem bereitwillig nach und ruht noch einige Minuten. Bruchstückhaft kehrt hierbei der gestrige Abend in sein Bewusstsein zurück. Eine Kneipe taucht auf. Eine gutaussehende Frau, mit lachendem Gesicht, erscheint in Form von Gedankenfetzen vor seinem Auge. Es ist Sabrina. Die Übelkeit steigt in Wellen immer wieder in ihm auf. Whisky ist ein übles Zeug, denkt er. Er schwört sich in diesem Augenblick, das Zeug nie mehr anzufassen. Dann wird ihm bewusst: He, es ist Sonntag! „Halleluja!“, denkt er erleichtert, in diesem Zustand hättest du heute keinesfalls zur Arbeit gehen können. Er schält sich träge aus dem Bett, verweilt einige Sekunden sitzend, um sich zu vergewissern, dass er aufrecht stehen kann. Dann gibt er sich einen Ruck, steht auf, um sich sogleich am Edelstahl-Schaft der futuristischen Stehlampe wieder abzustützen. Eine Welle von Übelkeit droht ihn umzuwerfen. Er torkelt zur gegenüberliegenden Wand, um sein Äußeres im Spiegel zu überprüfen und erschrickt bis ins Mark. Sein Gesicht gleicht dem eines Schwerkranken. Tiefe Falten durchziehen seine blassen Wangen. Seine geröteten Augen schauen ihm leer und ausdruckslos entgegen. Dann zuckt er zusammen. Eine fremde Bewegung, die direkt neben seiner rechten Wange im Spiegel auftaucht, lässt seine Aufmerksamkeit auf diese Bewegung wechseln. Es dauert ein paar Sekunden, bis er die Bewegung fokussieren kann. In seinem Bett, aus der Zudecke herauslugend, bewegt sich etwas. Etwas Kleines, dass er nicht erkennen kann. Ein Schlangenkopf vielleicht. Zu tiefst erschrocken, dreht er sich um. Was er dort sieht, will sein lädierter Verstand nicht zulassen. Es ist die Hand eines Säuglings, die sich bewegt und von der sich die winzigen Fingerchen in einem munteren Bewegungsspiel spreizen und wieder einklappen, so, als zähle der Säugling. Martin legt die rechte Hand über seine Augen und nimmt sofort den üblen Geruch von Zigarettenrauch und Whisky wahr, der aus seinem Pullover ausdünstet. Als er die Augen einen Spaltbreit öffnet, sieht er, dass sein ursprünglich weißer Pullover am rechten Ärmel braun durchtränkt ist. Das Gesicht der Frau tritt wieder in sein Bewusstsein, die ihm an einem Kneipentisch gegenüber sitzt, als er sein volles Glas Whisky durch eine ungeschickte Handbewegung umwirft und der rechte Ärmel seines Pullovers die braune Flüssigkeit gierig aufsaugt. Gleichzeitig wird ihm bewusst, dass er in seiner normalen Kleidung die Nacht im Bett verbracht hat.
In der Hoffnung, dass die Halluzination aus seinem Bett nicht wieder auftauchen wird, zieht er zögernd die Hand nach unten. Was es sieht, pusht ihn in die Realität. Die Hand zählt nach wie vor, und es ist tatsächlich die winzige Hand eines Säuglings. Er nähert sich behutsam dieser Erscheinung und erblickt nun auch noch einen schwarzen Haarschopf. Ein Hauch von Verzweiflung steigt in ihm hoch, nachdem er nun soweit klar im Kopf ist, dass er diese verrückte Situation als Realität akzeptiert.
Soweit es in seinem Zustand möglich ist, lässt er sich vorsichtig auf das Bett nieder und nähert sich diesem Bündel Mensch vorsichtig an. Als er den Kopf des Säuglings nun komplett wahrnimmt, dreht sich dieser ihm zu, fixiert ihn für Sekundenbruchteile, um daraufhin alle Gesichtsmuskeln in eine Kontraktionsphase übergehen zu lassen. Die Wangen des Kleinen rutschen nach oben, die Augen schließen sich, und dann öffnet das kleine Wesen seinen Mund, um mit einer ungeahnten Lautstärke loszuweinen, die der eh schon schlechten Verfassung des Adressaten nicht zuträglich ist. Martin schlägt beide Hände vor sein Gesicht, einerseits als Reaktion auf diesen Nerv zerreißenden Geräuschpegel, andererseits, um sich zu erklären, wie dieses kleine Bündel in sein Bett gekommen sein mag.
Er ist verzweifelt und überlegt, dass die einzig richtige Reaktion die ist, nun die Polizei zu rufen. Er sucht nach seinem Handy, währen das menschliche Paket nun zur Höchstform aufläuft. Dem ätzenden Ton einer Kreissäge gleichkommend, hindert ihn dieses akustische Inferno, einen wirklich klaren Gedanken zu fassen. Aber das ist nun gar nicht mehr notwendig, denn die Tür seines Arbeitszimmers öffnet sich einen Spaltbreit, und eine junge Frau tritt in sein Schlafzimmer. Mit Erstaunen und einer gleichzeitigen Erleichterung nimmt er diese Frau zur Kenntnis.
„Sabrina, was in aller Welt machst du hier?“
Diese antwortet nicht gleich, sondern schaut ihn mit ernster Miene an.
„Was denn, das weißt du nicht?“
Martin senkt den Blick für einen Moment, denkt nach, schüttelt dann aber resignierend den Kopf.
„Nein, ich habe keine Ahnung! Sag mal, du hast ein Kind? Wusste ich gar nicht. Wieso ist es denn hier in meinem Bett?“
„Mein Kind?! Das meinst du nicht im Ernst, oder?
„Was denn – ist es denn nicht dein Kind?
Die Frau schüttelt den Kopf.
„Wessen Kind in aller Welt ist es denn dann?“
So, als fühle das Kind sich angesprochen, verstummt es augenblicklich und brabbelt lediglich vor sich hin. Sabrina presst die inneren Handflächen ihrer Hände aufeinander und legt die beiden Zeigefinger nachdenklich auf ihre Lippen. Sie schaut zu Boden, und einen langen Moment lang fixiert sie einen imaginären Punkt auf dem edlen Parkettboden, um sich offenbar zu sammeln. Dann hebt sie den Kopf, und mit festem Blick schaut sie Martin in dessen trübe Augen.
„Sag mal, weißt du denn überhaupt noch was vom gestrigen Abend und der letzten Nacht?“
Martin senkt sich sehr langsam und nachdenklich in einen Sessel ab, vergräbt sein Gesicht einige Sekunden in beide Hände, streicht sich dann durch sein zerzauste Haar, wirft erneut einen Blick auf den braunen rechten Ärmel seines weißen Pullovers und schüttelt den Kopf.
„Sabrina, wenn ich dich schlecht behandelt habe, tut es mir leid. Ich habe einen kompletten Filmriss. Ich weiß nur noch, dass ich mit mehreren Leuten in einer Kneipe war, und – ja, du warst auch dabei – ich erinnere mich wieder – und … Hotte …, Mary …, Sigi und Manuela und …“
Er stockt einen Moment, und ein Lächeln des Erinnerns legt sich auf sein Gesicht, als er den rechten Zeigefinger triumphierend hebt.
„Ja, klar, zehn Jahre Abi – das war der Grund!“
Sabrina nickt, entgegnet seinem Blick aber mit ernster Miene.
„Nicht nur. Da war noch etwas“, entgegnet sie.
Martin spreizt die Handflächen nach außen und zuckt mit den Schultern.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Wie haben in deinen 30. Geburtstag hineingefeiert. Schon vergessen?“
Das Lächeln bleibt in seinem Gesicht.
„Ja, verdammt, ich habe heute Geburtstag“, ruft er freudig aus und streckt sich in seinem Sessel für einen Augenblick nach hinten.
„Martin“, sagt Sabrina mit ernstem Unterton, „das ist sicher schön aber es ist etwas Schreckliches passiert. Erinnerst du dich?“
Martin rückt sofort seinen Oberkörper wieder nach vorne, stützt die Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab und schaut zu dem kleinen menschlichen Bündel in seinem Bett hinüber.
„Hat das Schreckliche mit dem Kind zu tun? Was ist mit ihm, wessen Kind ist das?“
„Ja, Martin, das hat es. Erinnerst du dich, dass du mit Hotte – ja, man muss es wirklich so drastisch formulieren – regelrecht um die Wette getrunken hast?“
Martin begräbt erneut sein Gesicht in seinen Handflächen.
„Ja, stimmt, mit Hotte, dem Haudegen, habe ich … eh … Whisky getrunken! – wie in alten Zeiten!“
Sabrina quittiert die Aussage mit einem stummen Nicken. Sie begräbt ihr Gesicht mit beiden Händen und Martin sieht, dass ein Weinkrampf nun Sabrinas Körper in heftige Zuckungen versetzt. Er springt auf, legt seinen Arm tröstend um ihre Schultern und drückt ihren Kopf sorgsam an seine Brust.
„Was ist denn bloß los, Sabrina? Was ist passiert?“
Sabrina löst sich mit einem Ruck von Martin, kramt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzt heftig ihre Nase. Martin fällt auf, dass gar keine Tränen sichtbar sind. Dann schaut sie mit geröteten Wangen Martin wieder in die Augen.
„Kannst du dich erinnern, wie du nach Hause gekommen bist?“
Martin überlegt einen Moment, schüttelt aber dann den Kopf, während gleichzeitig der Säugling wieder unruhiger wird. Sabrina fährt fort.
„Wir waren alle zwölf mehr oder weniger betrunken. Aber Hotte und du – ihr wart beide in einem schlimmen Zustand. Kurz bevor wir aufbrachen, hast du angefangen, mit mir zu flirten. Hast mich regelrecht angebaggert. Währen der Wirt für alle Taxis bestellt hatte, bist du in volltrunkenem Zustand mit dem Auto nach Hause gefahren.“ Ungläubig und mit einem Anflug von Panik, presst Martin ein „Was?“ heraus.
„Das ist absolut unmöglich! Das würde ich niemals tun, selbst wenn ich tatsächlich volltrunken wäre. Und überhaupt, ich bin gestern mit dem Bus zu dieser Kneipe gefahren! Ich habe mein Auto überhaupt nicht bewegt. Sabrina, das ist vollkommener Unsinn! Ich fahre selbst nach einem einzigen Glas Bier nicht mehr. Das habe ich noch nie gemacht! Ich bin Staatsanwalt! Meinst du, ich würde meine Karriere gefährden?! Abgesehen davon finde ich ein solches Verhalten abscheulich und absolut verwerflich. Das hat sich bis in die hintersten Verästelungen meines Gehirns manifestiert. Ein absolutes No-Go! So etwas würde ich niemals tun. Und das glaube ich dir auch nicht.“
Sabrina bleibt unbeirrt.
„Offensichtlich überschätzt du dich! Woher willst du wissen, ob du tatsächlich in einem solchen Zustand die Oberhand über dein Verhalten bewahren kannst. Wir kennen uns nicht so intensiv, aber ich glaube nicht, dass du jemals in einem solchen Zustand gewesen bist, wie gestern Nacht. Woher willst du also so sicher wissen, dass du dich richtig einschätzt?“
„Verdammt noch mal – weil es meinem Naturell vollkommen widerstrebt, so etwas Leichtfertiges zu tun!“, ruft er erzürnt aus.
Der Säugling beginnt erneut zu weinen.
„Martin, höre mir nun genau zu! Während die anderen nach und nach mit dem Taxi verschwanden, hast du mich schon auf der Straße angebaggert, mir den Autoschlüssel aus der Handtasche geangelt, bist in mein Auto gestiegen und wolltest mich unbedingt zu dir nach Hause fahren. Wolltest mich abschleppen. Und voilà, hier bin ich. Wieso wäre ich sonst hier?!“
„Was, das ist doch Unsinn! Ich kenne dein Auto überhaupt nicht, weiß überhaupt nicht, mit welcher Karosse du in der Gegend herumfährst!“
„Ach nein? Ich hatte dir schon vor einiger Zeit erzählt, dass ich mir einen neuen, knallroten Mazda 3 zugelegt habe.“
„Und wenn schon, ich kann einen Mazda nicht von einem Toyota unterscheiden. Ich habe überhaupt kein Faible für Autos! Und erzähle mir jetzt nicht, die Polizei hätte mich erwischt.“
„Nein, das nicht. Aber das ist vielleicht genau das Problem!“
„Problem? Was für ein Problem? Erzähle mir jetzt endlich, was passiert ist!“
„Das versuche ich ja die ganze Zeit. Aber deine Renitenz macht es mir nicht leicht.“
„Renitenz? Mach´ dich nicht lächerlich. Ich bin vielleicht noch nicht ganz nüchtern, aber ich bin nicht blöde und werde nicht glauben, was du da erzählst!“
Sabrina nähert sich vorsichtig dem schreienden Säugling, setzt sich auf die Bettkante und streichelt sein Köpfchen. Der beruhigt sich, weint nun viel leiser, was von einem herzhaften Gähnen kurz unterbrochen wird.
„Mein lieber Martin, du weißt nicht wie du nach Hause gekommen bist, aber du behauptest gleichzeitig, nicht gefahren zu sein. Wie, mein lieber Staatsanwalt, würdest du dies in einem Gerichtsverfahren bewerten. Ich glaube, der Angeklagte hätte schlechte Karten bei dir.“
„Verdammt, worauf willst du hinaus? Lass´ die Katze endlich aus dem Sack!“
„Gut, aber ich möchte, dass du dich hinsetzt.“
„Lächerlich!“, sagt Martin, „danke für deine Fürsorge, aber ich werde es auch stehend aushalten!“
Er ballt beide Fäuste, spannt die Halsmuskeln an und presst ohne den Mund ausreichend zu öffnen wütend „Erzähle endlich!“, heraus.
„Gut, wie du willst. Wir sind dann zusammen losgefahren, du am Steuer.“, setzt Sabrina fort.
„Ach, Frau Oberärztin steigt zu einem Volltrunkenen ins Auto? Warst du von meinem angeblichen Anbaggern so betört, dass du die möglichen Konsequenzen weder rechtlich noch im Hinblick auf eine Selbstgefährdung berücksichtigen konntest?“, wirft er ein.
„Deine Ironie kannst du dir sparen. Hast du vergessen, dass auch ich betrunken war?!“
Martin macht eine abschätzige Handbewegung.
„Weiter!“, ruft er ungehalten.
„Martin, es kam, wie es kommen musste. Du fingst an, mich während der Fahrt zu befummeln. Dabei bist du von der Straße abgekommen und hast auf dem Bürgersteig eine junge Frau, eine Asylsuchende, mit ihrem Kind angefahren.“
„Was?“
Martin läuft, die Fäuste panisch auf seine Augen gedrückt, einige Schritte durch das Zimmer. Dann schlägt er mit der echten Faust gegen seine Schläfe.
„Du sagst mir augenblicklich, dass das nicht wahr ist. Sabrina, sag, dass das nicht wahr ist!“
„Es ist wahr, Martin! Wenn ich das in der Eile richtig diagnostiziert habe, hatte die Frau einen Beckenbruch. Sie sprach nur ein paar Brocken Englisch. Es war schwierig, sie zu untersuchen. Sie hatte keine Blutungen und war nach meiner Einschätzung nicht lebensgefährlich verletzt. Ich habe dann anonym einen Notarzt gerufen, wir haben ihren Säugling in unser Auto gepackt und sind dann sofort zu dir gefahren.“
Martin legt die rechte Hand an die Stirn. Die pure Panik ist in sein Gesicht geschrieben. Das Geschilderte scheint irgendwie schlüssig zu sein.
„Das ist ihr Säugling? Bist du irre? Wir fahren einen Menschen in betrunkenem Zustand halbtot, und du setzt noch eine Kindesentführung obendrauf? Bist du völlig durchgedreht?“
Nun erhebt auch Sabrina ihre Stimme.
„Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich bin Ärztin und kann doch nicht einen Säugling auf einer gottverlassenen, einsamen Landstraße liegen lassen, neben einer schwerverletzten Mutter, die vielleicht in einer Minute das Bewusstsein verliert!“
„Herrgott, du hättest das tun müssen, was jede Zwölfjährige an deiner Stelle getan hätte: Die Polizei rufen!“
„Jetzt pass´ mal auf, du oberschlauer Rechtsdiener. Weißt du wieviel Zeit, Mühe und Geld mich mein Studium gekostet hat? Weißt du, wieviel hunderte unbezahlte Überstunden ich in diversen Krankenhäusern ableisten musste, um endlich als Oberärztin ein halbwegs adäquates Gehalt zu beziehen und wieviel Demütigungen ich auf diesem Weg von arroganten Chefarzt-Machos erleiden musste?! Meinst du, das gebe ich alles weg, weil ein betrunkener Staatsanwalt seine Pflichten verletzt?! Du hast die Frau umgefahren, nicht ich! Wir hätten beide unsere Existenz verloren. Hättest du das gewollt? Bitte, du kannst immer noch die Polizei anrufen, aber dann lass´ mich da raus.“
Martin geht mit erhobenen Händen auf die Wand zu, stemmt seine Hände gegen die Tapete und schlägt seine Stirn zweimal heftig gegen die Wand. Der Schädel brummte schon zuvor, aber nun zieht der Schmerz bis in die Ohren hinein. Er denkt einen Wimpernschlag lang an Suizid, versucht dann aber wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
„Was in aller Welt macht eine Asylsuchende mit einem Säugling mitten in der Nacht auf einer einsamen, gottverlassenen Landstraße? Kannst du mir das erklären?“
Sabrina zuckt scheinbar gelangweilt mit den Schultern.
„Nein, das konnte ich in der Kürze nicht in Erfahrung bringen. Die Frau war verstört, hatte starke Schmerzen und – ich sagte es bereits – sie sprach nur ein paar Worte Englisch. Aber sicher kannst du es morgen in der Zeitung nachlesen.“
„Weißt du, was mich regelrecht ankotzt? Deine maßlose Überheblichkeit. … aber sicher kannst du es morgen in der Zeitung nachlesen“, äffte er nach.
„Und was machen wir jetzt mit dem Kind?“
„Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Wir legen es einfach in eine Babyklappe. Man wird eins und eins leicht zusammenzählen können, und die Frau wird ihr Baby sicher schnell zurückbekommen.“
„Sag mal, Frau Oberärztin, bist du wirklich so naiv? Wir leben in einem hochtechnisierten Rechtsstaat. Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass wir ungeschoren davonkommen. Es wird keine zwei Tage dauern, bis die Polizei uns ausfindig gemacht hat.“
„Dich ausfindig gemacht hat“, sagt sie abwertend, erhebt sich vom Bett, um Richtung Arbeitszimmer zu gehen. Als sie an ihm vorbeigeht, wallt von ganz unten Wut in ihm auf, vielleicht seinem Restalkoholgehalt geschuldet, vielleicht aber auch der aussichtslosen Situation geschuldet, die er zwar immer noch nicht ganz akzeptiert hat, aber eine gewisse Schlüssigkeit aufweist und hierdurch mit einer Ambivalenz behaftet ist, die gleichwohl ein gehöriges Potenzial Frustration mit sich trägt.
Es ist eigentlich eine unbedeutende, nur kurze, reflexhafte Armbewegung, die vollkommen unkontrolliert aber gleichsam unabwendbar geschieht und dem Geschehen eine unvorhergesehene Wendung gibt, als nämlich sein rechter Arm ihren linken Oberarm heftig trifft, und sie das Gleichgewicht verliert. Sie wirft die Arme, instinktiv um Korrektur bedacht, nach oben, während ihr Körper dennoch nach rechts kippt. Ihr rechter Arm schnellt nach unten, um den Sturz abzufangen, aber soweit kommt es nicht, weil der Hals mit seiner rechten Seite auf die hölzerne Lehne eines Stuhles aufschlägt, was ein Geräusch verursacht, das der Staatsanwalt Martin Eickler zuvor noch nie in seinem Leben vernommen hat, in etwa vielleicht aber dem Geräusch sehr nahe kommt, wenn man einen stabilen Ast unter Wasser durch große Kraftanstrengung bricht. Der Kopf selbst schnellt mit einer kurzen heftigen Bewegung hinter der Lehne nach unten, um dann aber nicht, wie man erwarten würde, zurückzufedern, sondern in dieser Anomalie für einen Augenblick verbleibt, bis der Körper insgesamt sehr langsam eine seitliche Drehung vollführt, die ihn langsam zu Boden gleiten lässt, und die Martin Eickler nun nachfolgend die Möglichkeit eröffnet, in die zu schielenden, sich voneinander wegdrehenden Augen der Oberärztin zu schauen, was ihm nach dem einzigartigen akustischen Ereignis zuvor, nun auch ein optisches beschert, und die er beide nie wieder aus seiner Erinnerung wird verbannen können.
Für einen Moment ist alles so surreal, dass er glaubt, einen Albtraum zu durchlaufen. Er steht wie gelähmt, unfähig irgendetwas zu tun und starrt auf Sabrina, deren Körper merkwürdig verdreht auf dem Boden liegt. Mit offenen Augen liegt sie dort, die schielend seine Füße zu fixieren scheinen, und im unteren Winkel ihres halb geöffneten Mundes, ruht ihre Zungenspitze. Wieviel Millionen Worte mag sie geformt haben, wie viele davon waren gütig, liebevoll, tröstend, mild – und wie viele böse, hasserfüllt, abwertend und verletzend. Martin findet es nicht merkwürdig, in diesem Moment solchen Gedanken nachzugehen.
Das Baby weint wieder lauter, und unmittelbar darauf vernimmt Martin aus seinem angrenzenden Arbeitszimmer ein Lachen.
Dann hört er einen Mann sagen: „Schnell, das Feuerzeug.“
Martin glaubt zunächst, dass er Stimmen halluziniert – in solchen Extremsituationen durchaus nicht ungewöhnlich. Aber die Stimmen sprechen nicht zu ihm, sondern dort unterhalten sich offenbar Menschen in einer konspirativen Weise untereinander. Instinktiv dreht er sich der Tür zu, drückt die Klinke hinunter und stößt sie mit steinerner Miene auf. Etwa ein Dutzend Frauen und Männer stehen mitten im Raum, mit fröhlichen Gesichtern und funkelnden Wunderkerzen in ihren Händen. Sie holen tief Luft und ein lautes „Happy Birthday“ schlägt der versteinerten Figur im Türrahmen entgegen. Ganz links reckt sich eine Frau nach oben, späht an Martins Schulter vorbei zum Bett hinüber, fixiert den weinenden Säugling und ruft: „Schatz, sei lieb, Mama kommt gleich!“ Dann stürzen alle auf Martin zu, umarmen ihn und wünschen viel Glück zum neuen Lebensjahr. Eine junge Frau ruft: „Überraschung geglückt! Schau mal, er sieht völlig konsterniert aus. War Sabrina überzeugend? Hast du die Geschichte echt geglaubt? Sicher nicht, du bist doch ein Profi, nicht wahr?“